Kannibalismus und Bier: Kassierer im Kult-Musical

Dortmund. (OK) Wird die Punk-Operette „Häuptling Abendwind und die Kassierer“ Kult? Das Stück hat jedenfalls das Zeug dazu. Die Akteure geben alles und zeigen fast alles, was sie zu bieten haben. Dafür lassen sie die Hosen runter, womit das Stück im aktuellen „Belfie-Trend“ liegt. (Obstkurve berichtete) Aber das allein wäre zu kurz gegriffen.
„Das schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“, singen Schauspieler und Band im Schauspielhaus. Das Lied bringt es auf den Punkt. Bier ist ein zentrales Thema der Aufführung. Es beginnt mit Bier, und es hört mit Bier auf. Ein Trauma. Bier alle oder kein Geld für Bier. Dazwischen bietet das Stück etwas für alle Sinne. Mit Bier, Liebe und Essen.

Es gibt Bier

Bierkästen säumen die Bühne. Bierkästen dienen als Sitzgelegenheit und Klo. Bier dominiert das liebevoll gestaltete Bühnenbild. Ensemble und Band trinken Bier, singen vom Bier. Rechts auf der Bühne leuchtet der schöne Schriftzug „Biergalerie“, oder war es  „Bierregal“? Bei Bedarf wurde er geändert in „Egal“. Häuptling Abendwind (Uwe Rohbeck) trägt eine Krone mit Kronenkorken – sein Gast Häuptling Biberhahn (Uwe Schmieder) eine mit Bieretiketten. Später gibt es Abendbrot.
Was ist das eigentlich, Häuptling Abendwind und die Kassierer? Ist es wirklich eine Punk-Operette? Irgendwie schon. Es ist sehr vielseitig. Die Aufführung bietet dem Zuschauer, der Sinn für den Humor der Kassierer (und des Stückes) hat, sich gemütlich hinzusetzen und zuzuschauen, zuzuhören und zu riechen. Er wird gut unterhalten und sieht eine bunte Mischung aus Theaterstück und Punkkonzert, aus Musical und Tragödie.

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Atala und die Kassierer singen über Bier und Essen.

Atala (Julia Schubert) ist der Star. Sie verteilt Bier aus der Kühlbox an die ersten Reihen oder spielt mit einer aufblasbaren Weltkugel Ball mit dem Publikum. Sie singt, tanzt und spielt klasse. Regisseur Andreas Beck hat das alte Stück des Dichters Johann Nestroy (von 1862) und die Lieder der Kassierer zusammengeführt. Das passt. Es passt sogar sehr gut.
Die Geschichte dreht sich um einen Vater-Tochter Konflikt. Tochter Atala, 16, ist Vegetarierin, ihr Vater mag Menschenfleisch. Sie verliebt sich in den Friseur Arthur (Ekkehard Freye), der dann aber von den Häuptlingen in einer schmierigen Fressorgie mit Spaghetti in Tomatensauce verspeist wird, denkt der Zuschauer. Das denkt auch die junge Braut. Fremde und Gefangene werden eben verspeist. Hier hätte der Vater Biberstein seinen Sohn aufgegessen und dabei dessen Spieluhr verschluckt. Ansonsten ist Schmalhans Küchenmeister. Wolfgang Wendland singt nicht nur, er spielt auch den Koch, der gleichzeitig Metzger ist. Die Zuschauer in der ersten Reihe schützen sich mit einer Plastikplane vor den umher fliegenden Spaghetti und Speiseresten. Die Häuptlinge werfen Gummipuppen ins Publikum. Schlagzeuger Volker Kampfgarten besticht durch ausgefeilte Mimik. Wer ist hier Schauspieler, wer ist Musiker? Egal.
Schauplatz der „indianischen Faschingsburleske“ sei eine Insel, heißt es in der Presseinfo. Das Stück könnte aber genauso gut im Ruhrgebiet spielen, wo leere Bierkisten in Wasserlachen umherschwimmen (Bild der Hintergrundkulisse). Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Nestroy sei es vor 1900 um den Kannibalismus jener „Menschenfresser“ des Establishments gegangen, die ihm aus dem Parkett applaudierten. Um welche „Menschfresser“ mag es heute gehen? Etwa um die wenigen Zuschauer, die vorzeitig gingen, ohne das große Finale zu sehen? Oder ist das eine Zukunftsvision fürs Ruhrgebiet – mit Kannibalismus?

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Kannibalismus im Ruhrgebiet: Die Kassierer im Schauspielhaus Dortmund.

Nachdem Atala schon kurz ihren Po gezeigt hatte, entblößen Schauspieler und Musiker ihre Pimmel. Der von Wolfgang Wendland ist sogar frisiert und mit Beleuchtung. Auch er hält seinen Hintern ins rechte Licht. Und es gibt ein überraschendes Happy End.
Die Zuschauer applaudieren begeistert. Minutenlang. Musiker und Schauspieler dürfen nicht ohne Zugabe von der Bühne gehen. Der Song „Menschenfresser“ ist eben ein echter Ohrwurm. Zitat: „Müde und satt, wie schön ist dat?“
Ob sich Häuptling Abendwind und die Kassierer zum Kult-Musical wie die Rocky Horror Picture Show entwickelt? Das wird sich zeigen. Vielleicht sind die Kassierer zu ungehobelt. Die gelungene Aufführung mit Subkultur im Schauspielhaus ist ganz schön freizügig. Manche Betrachter fanden das kannibalische Festmahl „ekelhaft“. Es riecht zwar nach Tomatensauce, aber es ist ok. Das laute Stück würdigt die künstlerische Leistung der Kassierer. Es gibt so viel zu sehen und die Musik ist so gut, dass man es sich glatt noch einmal ansehen könnte. Dazu besteht noch Gelegenheit. Weitere Termine: 12., 21. Februar, 6., 29. März, 10., 26. April, 9., 24. Mai 2015.

Uwe Rohbeck Uwe Schmieder

Lecker? Das kannibalische Festmahl. Eine Sache für die Kommunalpolizei. (Bilder – 3- Schauspielhaus Dortmund)

 

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