Erfurt. (OKZ) „Mama, ich halt’s nicht mehr aus. Ich muss hier raus.“ Es war ein ganz normaler Freitag im IC 2115 der Deutschen Bahn von Soest nach Weimar.
Wir steigen ein, haben in Wagen 10 reversiert, aber wo ist Wagen 10? „Wagen 10 gibt es nicht“, sagt der Schaffner. „Reservierungen für Wagen 10 sind in Wagen 8.“ Wir drängeln uns in Wagen 8. Der Gang ist voll. Die Leute stehen. Unsere Plätze sind besetzt. Wir wollen aber sitzen. Die beiden Typen sagen: „Uns hat der Schaffner gesagt, Reservierungen gelten nicht. Wir sollten uns einfach irgendwo hinsetzen.“ Sie hatten Reservierungen in Wagen 10. Immerhin, sie sitzen.
Angesichts der bedrohlichen Lage rundherum verzichten wir darauf, noch mehr Ärger zu machen. Vier Reisende bieten uns ihre Plätze an, die schon in Kassel frei werden. Also nur fast eineinhalb Stunden stehen. Der Zug hält in Lippstadt. Noch mehr Leute steigen in den total überfüllten Zug. Natürlich alle nur bei uns in Wagen 8, wo es eh schon zu voll ist. Eine Mutter setzt sich mit ihren Kleinkindern in den Gang. Eine andere Mutter sitzt mit ihren beiden Kindern auf einem Sitz. Die Sitze sind im Prinzip bequem. Es ist ein alter 1. Klasse-IC-Wagen. Die Luft wird immer schlechter.
Bahn informiert auf dem Klo
Der Zug hält in Paderborn. Die Lage eskaliert. Noch mehr Leute steigen in den Zug, der aus allen Nähten platzt. Zwei Frauen mit Rucksack wollen durch, obwohl jeder sieht, hier kommt keiner durch. Die Luft wird nicht besser. Feiernde Frauen aus Paderborn kommen dazu. Sie trinken Berentzen aus Plastikfläschchen und wollen nach Fulda. Der Zug steht eine halbe Stunde nutzlos in Paderborn herum. Ungeduld. Plötzlich aber unerwartet fährt der Zug los Richtung Altenbeken.
Nur auf dem Klo ist eine Durchsage zu hören: „In Altenbeken sollen Reisende nach Süddeutschland aussteigen und in einen anderen Zug umsteigen. Dieser Zug ist überfüllt und kann nicht weiterfahren.“ Draußen hat das keiner gehört. Die Lautsprecheranlage ist defekt. Die Bahn fordert Reisende auf, öfter mal aufs Klo zu gehen.
Der Zug hält in Altenbeken. Erleichterung. 100 Reisende wollen einsteigen. Der Zug steht, hat jetzt 51 Minuten Verspätung. Die Mutter mit den zwei Kleinkindern auf einem Sitz flieht. Sie hat keine Chance mehr. Ihrem Sohn ist schlecht, er kriegt Panik. „Ich will raus“, schreit er. Mit der Bahn kommen nur die Härtesten durch.
Fuldaer müssen raus
Schaffner stehen draußen und rauchen im Raucherreservat auf Gleis halb neun. Gerüchtehalber wirbt die Bahn mit der Aktion „der Zug fährt nicht weiter, wenn nicht viele Leute aussteigen“. Die Bahn lockt Kunden mit Versprechungen oder Ankündigungen wie diesen hier: „Der Zug nimmt jetzt keine Fahrgäste mehr auf“, heißt es. Wir glauben eher, gleich kommt die GSG 9 und räumt den Zug. Andere behaupten, Reisende nach Fulda müssen aussteigen.
Wie auch, der Zug ist schon jetzt so voll, dass nur auf dem Dach noch Platz ist. Keiner kommt raus, keiner kommt rein. Der Zug steht. Dann plötzlich steigen weitere Fahrgäste aus. Irgendwie räumen sie andere Menschen und ihre Koffer aus dem Weg. Sie glaubten an die Verheißung: „Ein anderer Zug fährt ab Altenbeken nach 13 Uhr in Richtung Kassel.“ Halleluja. Unter den eisern Verbliebenen kursieren Durchhalteparolen. „Wir bleiben hier.“
Kambodscha Express
Sie gewinnen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Er tuckert tatsächlich weiter nach Warburg. Wieder schaffen es einige Fahrgäste, auszusteigen. Jubel bricht aus. Keiner kommt rein. Das Unglaubliche wird wahr: Und der Zug fährt schon wieder weiter. Bis Kassel. Hier stürmen fast alle aus dem Zug. Sie leben noch. Ein verbliebener, unentwegter Reisender sagt: „Schnell die Tür zu machen! Wenn keiner hierbleibt, fährt der Zug nicht weiter.“ Keiner steigt ein. 12 Leute bleiben. Die Sensation: Sie fahren mit 55 Minuten Verspätung weiter Richtung Obstdeutschland.
Der Zug hält in Eisenach, Gotha, Erfurt, hat nur eine Stunde Verspätung. In Erfurt ist der Zug plötzlich ganz leer. Wir bleiben sitzen, wir wollen nach Weimar. Und dann passiert es doch: „Wir räumen jetzt den Zug“, sagt der Schaffner. Wir wundern uns. „Wir sind doch nur zwei.“ Das lässt er nicht gelten. „Wir haben jetzt so viel Verspätung, wir können mit dem Zug nicht mehr weiter fahren.“ Das ist neu. Wenn ein Zug zu viel Verspätung hat, bleibt er einfach stehen. OK. Wir steigen aus, wir steigen um in einen Nahverkehrszug. Ob er nach Weimar fährt?